Die Klavier6ank

Laurena Hust

Die Klavierbank, ein neuer und ungewöhnlicher Ort, zu dem sich Elijah die letzten Tage zurückzog.

Während die Massen eine Produktion erwarteten, die seine bisherigen literarischen Werke bei Weitem übertreffen sollte, schlich er nahezu im Schneckentempo zu dem rot-schwarz gepolsterten Sitz, direkt vor dem edlen Klavier.

Einzig und allein das Knarzen der Holzdielen war zu hören. Erst als er sein Ziel erreichte und auf der kleinen Bank platznahm, füllte der anhaltende Ton des hohen Cs die Stille des Raumes.

Zu Beginn stritt seine Frau alle Besorgnis mit einer einfachen, plausiblen Ausrede ab.

„So viel Druck. Natürlich musste er tief in Gedanken sein.“

„Vielleicht gab ihm dieser eine Ton eine grandiose Idee.“

Doch nach den ersten Wochen, den ersten Monaten, die vergingen, verlor er seine übliche Alltagsroutine mehr und mehr. Er aß nur noch, wenn sie ihm das Essen ans Klavier, direkt vor seine Hände, stellte. Mitten in der Nacht fand sie ihn mit dem Gesicht auf der Tastenabdeckung schlafend.

„Dieses Klavier“, fluchte Evie innerlich. „Was nur zog ihn so magisch auf diese Bank? Was war so besonders an diesem Ton?“ In der Verzweiflung, mit nur noch einer Hülle als Ehemann rannten ihr sogar die lächerlichsten Gedanken durch den Kopf.

„Was ist, wenn diese Bank verflucht ist? Was ist, wenn Elijah von einem Geist besessen wurde?“

War er gefangen? So musste sie ihn retten. Sie konnte ihren armen Mann doch nicht einem solchen Schicksal überlassen.

Tage und Nächte setzte sie sich zu Elijah in den Salon. Ihr Kopf schmerzte und ihre Finger verloren an Gefühl, durch all die Notizen, die sie zu der misslichen Lage verfasste.

„Vielleicht soll der Ton etwas bedeuten. Ist es ein Morse Code?“

Eifrig beobachtete Evie das Senken Elijahs Zeigefingers, hinab auf die Taste des hohen Cs.

Laaaaaaaaaaaaaaang …

Was erwartete sie denn auch? Schließlich war der Ton immer derselbe. Ihre Ohren sahen diesen penetranten Ton wohl mittlerweile schon als Hintergrundrauschen an.

Sie begann zu weinen.

„Elijah bitte. Ich will dir doch helfen. Was soll ich denn tun?“

Zittrige Füße taumelten zu dem Mann am Klavier. Evie schüttelte seine Schultern.

„Du musst doch nichts veröffentlichen. Sieh nur, was es mit dir macht!“

Er antwortete nicht, er reagierte nicht einmal. Evie konnte nur dabei zusehen, wie sein Brustkorb sich langsam wölbte und anschließend wieder in sich zusammenfiel.

„Ist es ein Geist? Ein Dämon der dich plagt?“

Ein Knacken des Mobiliars schreckte Evie auf. Sie blickte sich um, versuchte den Ursprung des Geräusches auszumachen.

„Ist es das? Ein Geist? Ist er hier?“

Ihr Herz raste, die Augen folgten hektisch jeder möglichen Bewegung im Raum. Die Stille zwang ihr erneut Tränen über das Gesicht. Nichts. Keine Veränderung, alles blieb so, wie es die letzten Wochen war. Evie schluchzte laut, spürte ihr Herz schmerzen.

Verloren wandte sie ihren Blick erneut zu ihrem Geliebten und erschrak bei dessen Anblick. Seine Augen, sie zitterten, blickten in die ihren. Seit Wochen hob er seinen Blick nicht vom Boden und den Tasten des Klaviers, doch nun starrte er ihr förmlich in die Seele.

So erfreut sie doch über einen winzigen Fortschritt war, so verängstigt war sie von ihrem Mann noch nie gewesen. Mit einem mal erklang ein neuer Ton.

Die Taste des tiefen Cs wurde herunter gedrückt. Erst vier mal kurz, dann eine Pause, gefolgt von zwei weiteren kurzen Klängen. Danach kurz, lang, kurz, kurz. Pause. Kurz, kurz, lang, kurz. Pause. Kurz. Danach wiederholte sich alles aufs Neue.

„Warte! I- Ich … fang nochmal von vorne an. Was sagst du?“ Evie hastete an ihren Sitzplatz, an welchem sie ihren Mann zuvor beobachtet hatte. Sie suchte nach ihrem Notizbuch, einem Stift. All die Seiten, sie waren schon beschrieben. Irgendwo musste es doch sein, das Alphabet. Blatt um Blatt fiel zu Boden, während plötzlich weitere Töne den Raum mit einer unheimlichen Melodie umhüllten.

Evie blickte von ihren Notizen auf, suchte verzweifelt nach ihrem Ehemann, der spurlos verschwunden war.

Nun war sie alleine. Alleine mit dem Klavier, welches scharfe unbehagliche Melodien in ihr Gehör bohrte.

„Elijah? Elijah wo bist du?“

Der Raum war in Dunkelheit gehüllt, doch die Nacht war noch gar nicht herangebrochen. Er wirkte ganz anders als zuvor. Evie hatte das Gefühl, als würde sie auf einer Bühne stehen, das Klavier im Spotlight und alles um sie herum mit Anspannung und Schwärze gefüllt.

„Nicht Elijah. Raphael, werte Dame.“ Eine tiefe Stimme hallte aus der Dunkelheit in den Raum hinein. Keine, die sie zuvor jemals gehört hatte.

„Raphael?“ Evie zitterte am ganzen Leib und presste angespannt das Notizbuch gegen ihren Brustkorb.

„Gewiss. Elijah ist jedoch nicht weit von uns. Er beobachtet, plant und schreibt. Das war seine Bedingung.“

„Bedingung? Was soll das heißen?“

„Dein Mann, meine Liebe, wählte Fiktion anstatt Liebe. Meiner Meinung nach, seid Ihr ohne ihn viel besser dran. Ein Nichtsnutz, der seine Frau nicht zu würdigen weiß.“

„Er ist kein Nichtsnutz. Bringt ihn mir sofort zurück. Bitte!“ Evie fiel auf ihre Knie, schluchzte und beobachtete durch ihre tränenverschwommene Sicht, wie eine Gestalt in der Dunkelheit wanderte. Etwas kam näher.

„Das ist leider nicht möglich, meine Liebe. Euer so begehrter Ehemann befindet sich nun in einer Zwischenwelt, die er nicht mehr verlassen kann.“ Aus den Schatten trat ein menschenähnliches Wesen. Ein Mann mit rötlicher Haut, Hörnern und einem Schweif, der geschmackvoll hin und her wankte. Seine Augen leuchteten, wie ein gelbes Feuer.

„Er kann nicht fort sein, bitte. Das hat er nicht verdient.“

„Nicht verdient? Bitte. Er hat darum gefleht. Er kam angekrochen, wie ein lausiger Wurm. ‚Ich brauche eine Idee, einen Plan. So helft mir doch. Was soll ich denn nur schreiben?‘ Was wäre ich denn für ein Mensch, wenn ich einem solchen Hilfeschrei nicht nachkäme?“ Raphael lächelte, trat näher an Evie heran und kniete sich zu ihr herab. Evie zögerte. Konnte dies vor ihr überhaupt als Mensch bezeichnet werden?

„Ich sagte ihm ‚Ach Elijah. Die Geschichten sind überall. Ihr müsst doch nur einmal eure Augen öffnen und sehen, beobachten.‘ Trauert nicht, liebe Evie. Schon bald werdet ihr seine Werke lesen können. Das wird das Einzige, das euch noch bleibt.“  Ein kurzes hämisches Lachen entfleuchte den teuflischen Lippen. Raphael erhob sich und verschwand erneut in der Dunkelheit. „Vertraut mir, ich habe euch nur einen Gefallen getan.“

Nach einigen Minuten erlosch auch die Melodie im Klavier. Der Schatten verschwand, und Evie fand sich in ihrem altbekannten Salon wieder. Alles war beim Alten. Doch Elijah blieb verschollen. Die Klavierbank war leer, einzig und allein ein Buch lag auf dem roten Polster.

Es trug den Titel „Die Klavier6ank“, mit einer Widmung an die geliebte Ehefrau „Verzeih mir, Evie“.