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Noch ein tolles Buch: Alexandra Cedrino – Die Galerie am Potsdamer Platz

In den Dreißiger Jahren kommt Alice Waldmann nach Berlin. Die junge Frau will ihre Familie finden und erfahren, warum der Kontakt zu ihrer Mutter völlig abgerissen war. Ihre Großmutter, Helena Waldmann, scheint sie zu hassen, doch Alice findet Unterschlupf bei Rosa, ihrer Tante. Dort erhält sie nach und nach Zugang zur Gesellschaft der Künstler und der Kunstgalerien. Ihre Leidenschaft wird das Fotografieren.

Der Autorin, Alexandra Cedrino; gelingt es mit wenigen Sätzen, das Leben und die Ereignisse der Dreißiger Jahre vor dem geistigen Auge der Leserinnen lebendig werden zu lassen. Man spürt beim Lesen die Unruhe, den Wunsch nach Umbrüchen und Freiheit, die heraufziehenden Konflikte mit den Nationalsozialisten usw. Auch Alice, die Hauptfigur, versucht, sich selbst zu definieren, ihren eigenen Weg zu gehen und so viel wie möglich zu erleben und sich selbst zu verwirklichen.

Gesellschaftliche, politische, soziale oder andere Hindernisse sollen ihr nicht im Weg stehen.

Der Kunstbetrieb rund um die Familie Waldmann erweist sich als Türöffner für eine ganze Reihe von Geschehnissen, die die Entwicklung der Hauptfigur vorantreiben. Sehr gut sind auch die anderen wichtigeren Charaktere gelungen, die alle eigene Ziele haben, eigene Spiele spielen und jeweils ihr eigenes Päckchen mit sich herumtragen.

Sprachlich wird man von der ersten Seite an in die Geschichte hineingezogen und begleitet die Figuren gern.

Der Umschlag, mit seiner grafischen Gestaltung und den gedeckten Farben ist ebenfalls auch Blickfänger, der Aufmerksamkeit auf sich zieht, vor allem im Vergleich zu vielen anderen Büchern, die im gleichen Zeitraum spielen.

Leseempfehlung: Vashti Hardy – Das Wolkenschiff

Die Zwillinge Marie und Arthur verlieren ihren Vater, Ernest Brightstorm, einen Entdecker. Er hat eine Wettbewerbs-Entdeckungsreise zum Kontinent Südpolaris unternommen und ist gescheitert. Durch seinen Tod verlieren die Kinder nicht nur den Vater, sondern auch ihr Zuhause und werden quasi als Sklaven verkauft. Doch sie geben nicht auf. Mit Harriet Culpepper, einer jungen, energischen Entdeckerin wagen sie die Reise erneut. Harriet will als Erste den Pol erreichen, die Kinder wollen ihren Vater finden bzw. herausfinden, was wirklich geschehen ist, denn es gibt Hinweise, dass die Geschichte um ihren Vater sich nicht so abgespielt haben könnte, wie die Rückkehrerin Eudora Vane es erzählt hat.

Die hoch spannende Geschichte spielt in einer Parallelwelt. Zwar ist London – im Buch Lontown – unschwer zu erkennen. Als Zeit ist wohl das Ende des 19. Jahrhunderts angedacht, wenn man sich die beschriebenen Lebensbedingungen in den „Slumbs“ anschaut. Das Buch hat ein wenig etwas von Steampunk, doch stehen hier die Figuren und ihre Geschichte deutlich im Vordergrund. Die Geschwister haben Ecken und Kanten, machen Fehler, entwickeln sich weiter. Sie treffen auf Helfer, begegnen aber auch dem Bösen. Es tauchen wunderbare, fremde Kreaturen auf, und die Länder, die sie bereisen liegen gerade so ein wenig neben der Realität, dass die Autorin nicht viel braucht, um ein lebendiges Bild zu erzeugen, das beim Lesen klar im Kopf entsteht.

Die Geschichte, die an Jules Vernes „Kinder des Kapitän Grant“ erinnert, wartet mit einigen Überraschungen auf, wurde intelligent konstruiert und mit viel Liebe zum Detail umgesetzt.

Sprachlich sind Stil und Wortwahl hervorragend an die Zielgruppe angepasst. Ein bisschen schade ist, dass auf dem Titelbild ganz eindeutig nicht die „Aurora“, also das Wolkenschiff abgebildet ist, mit dem die Zwillinge unterwegs sind. Man hätte sich ein Bild der „Aurora“ gewünscht, nachdem es die Autorin so ungewöhnlich kreiert hat.

Zum Ende des Buches kündigt sich eine zweite Forschungsreise an. Diesen zweiten Band werden alle Leserinnen und Leser sicher voller Ungeduld erwarten.

Tom Fletcher – Der Weihnachtosaurus

William wünscht sich zu Weihnachten einen echten Dinosaurier. Er liebt Dinosaurier über alles und könnte wirklich etwas brauchen, das ihn aufmuntert, denn er sitzt im Rollstuhl, seine Mutter ist tot und dann kommt noch Brenda Pein, eine böse Schülerin, in seine Klasse.

 

Williams Vater liebt Weihnachten und erzählt William oft die Geschichten vom Nordpol. Von den Wichteln, die da arbeiten, um all die Weihnachtsgeschenke zu ernten und dass sie immer in Reimen sprechen …

Diese Geschichten unterscheiden sich deutlich von denen, die andere Menschen so erzählen. Aber Williams Vater behauptet steif und fest, dass es so ist.

Eigentlich hadert William nicht mit der Tatsache, dass er im Rollstuhl sitzt, doch seit Brenda da ist, wird er immer unsicherer und unglücklicher, denn sie versucht mit allen Mitteln, ihn fertig zu machen, und das gelingt ihr zunehmend.

Was William nicht weiß, die Leser aber schon ist, dass er beobachtet wird.

Am Nordpol laufen die üblichen Festvorbereitungen. Dabei finden die Wichtel ein Ei, aus dem ein Dinosaurier schlüpft. Er wächst beim Weihnachtsmann heran, beneidet die Rentiere, die den Schlitten ziehen und fliegen können und fühlt sich ziemlich einsam, weil es so einen wie ihn nicht noch einmal gibt.

Als der Weihnachtsmann Williams Wunschzettel liest, beginnt er höchstpersönlich, einen Flauschdino für William zu basteln. Damit beginnt das Unheil.

Die Geschichte ist von überbordender Fantasie geprägt. Die Figuren sind einem sofort sympathisch oder unsympathisch (was sich durchaus im Laufe der Geschichte noch ändern kann), jeder hat seine Macken oder Vorlieben, Schwächen oder Eitelkeiten. Doch alle sind gut zu verstehen.

Die Schwarz-Weiß-Illustrationen sind zielgruppengerecht, ebenfalls sehr humorvoll, zeigen aber nicht immer, was im Text steht, was an manchen Stellen ein wenig verwundert.

Zudem ist das Buch ziemlich brutal (jedenfalls an einigen Stellen), gleich zu Anfang werden alle Dinosaurier vernichtet, nicht im Rückblick, sondern die Leser sind life dabei, jemand wird gefressen und auf jemanden wird geschossen. Insgesamt ist für mich nicht ganz klar geworden, wozu das notwendig ist, sicher hätte man die Gefahr (und damit die Spannung) auch anders darstellen können.

Sprachlich lässt es sich sehr flüssig lesen, Kommentare des Autors stehen in Klammern und erzeugen eine weitere humorvolle Ebene, es gibt viele Dialoge, der Text ist breit gesetzt und sowohl zum selber Lesen als auch zum Vorlesen geeignet.

Ein wenig eingeschränkt ist das bei den (doch sehr) langen gereimten Passagen (die Wichtel reden nur in Reimen), die sich schwierig vorlesen lassen und nicht wirklich schön geraten sind. Diese Passagen sind oftmals nicht so leicht verständlich, da sie wegen des Reims eben etwas besonders formuliert wurden.

Insgesamt macht es Vergnügen, dieses Buch zu lesen. Die Kinder sollten jedoch keinesfalls jünger als 8 Jahre sein, eher noch etwas älter.

Anne Chaplet – In tiefen Schluchten

Anne Chaplet hat hier eine andere Art Krimi geschrieben. Im Vordergrund steht nicht unbedingt die Ermittlung eines oder mehrerer Täter, sondern die Begleitumstände, die historischen Hintergründe, die lokalen Besonderheiten. Verknüpft wird dies alles durch Tori Godon, eine deutsche Anwältin, frisch verwitwet, die sich in ihre französische Lebensumwelt einfinden will und muss. Sie hat mit ihrem (verstorbenen) Mann, Carl, ein sehr altes Haus gekauft, das Geschichte aus jeder Mauerfuge atmet und so einige Besonderheiten und Geheimnisse birgt.

Ausgelöst wird der aktuelle Fall durch das Verschwinden eines Holländers, der sich mit einem alten Franzosen unterhalten hat. Dieser Franzose, Didier Thibon, stirbt bald darauf unter ungeklärten Umständen. Weitere ominöse Todesfälle folgen.

Schließlich macht Tori sich auf, den Holländer zu suchen, da sich sonst niemand für sein Verschwinden zu interessieren scheint.

Ein Kampfhund spielt ebenso eine wichtige Rolle, genau wie ein Restaurateur, undurchsichtige Nachbarn und ein Polizist. Also, eigentlich ist alles da für einen Krimi. Doch Chaplet entwickelt die Geschichte betont beschaulich. Der Ort Belleville ist frei erfunden, doch das Vivarais an den Cevennen mit seiner hugenottischen Vergangenheit gibt es wirklich. Daraus webt die Autorin einen Fall aus Schuld, Verrat und Sühne, der sich spannend liest. Da die Ich-Erzählerin Tori genauso viel zu entdecken hat wie die Leser, ist man nah dran und gern bereit, Tori auf ihrem Weg zu folgen.

Maja Lunde – Die Bienen

Das Titelbild (ockergelber Hintergrund) zeigt eine tote Biene, die auf dem Boden liegt. Während der Hintergrund matt ist, wurde die Biene leicht eingeprägt und glänzt. Darüber stehen in schwarzer Schrift Autorenname und Titel, sowie das Wort Roman. Schlicht und schön. Das Titelbild hat mich gleich beim ersten Anschauen fasziniert.

Packt man das Buch aus, ist es honiggelb.

Inhaltlich erfährt man die Geschichte von drei Familien in drei unterschiedlichen Zeitaltern. Da ist zum einen William, im England des Jahres 1852, der gern Naturforscher wäre und schließlich in den Bienen und der Erfindung eines neuen Bienenstockes seine Berufung findet. In den USA, genauer in Ohio, arbeitet George im Jahr 2007 als Imker. Er träumt davon, dass sein Sohn Tom das Unternehmen eines Tages übernehmen wird, doch der studiert und interessiert sich für ganz andere Dinge. Dann beginnen die Bienenvölker eines Tages zu sterben.

Tao ist Arbeiterin China. Sie lebt im Jahr 2098. Die Menschen müssen alle Blüten von Obstbäumen etc. von Hand bestäuben, weil die Bienen ausgestorben sind. Das hat zu großen Hungerkatastrophen geführt. An einem ihrer wenigen freien Tage mach Tao mit ihrem Mann Kuan und dem vierjährigen Sohn Wei-Wen einen Ausflug. Wei-Wen erleidet einen Unfall und verschwindet in dem unüberschaubaren China. Doch Tao gibt nicht auf und beginnt, ihren Sohn zu suchen.

Was sich in der Zusammenfassung so unspektakulär anhört, erschafft im Roman einen Kosmos, in dem die Bienen und ihre Geschichte das bestimmende und verbindende Element darstellen. Das Leben der drei Protagonisten, das jeweils aus ihrer Perspektive erzählt wird, wobei sich die einzelnen Perspektiven streng in eigenen (recht kurzen) Kapiteln abwechseln, wird jeweils in der „Ich-Form“ erzählt, so dass die Leserinnen und Leser einen unmittelbaren Eindruck von den Gedanken und Gefühlen der Erzähler bekommen. Schnell erkennt man, wo sie irren, wo sie unrealistisch sind, wo sie sich selbst betrügen.

In der Zusammenschau erfährt man ziemlich genau, was zum Aussterben der Bienen geführt hat und können erkennen, dass jetzt gerade noch Zeit ist, wenn wir ein ähnliches Geschehen in unserer Realität verhindern wollen. Einige der genannten Gründe, wie die Milben, sind ja bereits am Wirken.

 

  • btb Verlag (20. März 2017), 20 €
  • ISBN-13: 978-3442756841