Kalenderfotos

Ich stellte den verdreckten Pick-up wieder auf genau denselben Parkplatz vor dem Motel, von dem ich vor 10 Stunden losgefahren war. Laura an der Rezeption blickte auf, sah mich besorgt durch die Scheibe an und schüttelte den Kopf – nichts. Dann schob sie fragend das Kinn nach vorne. Ich schüttelte ebenfalls langsam den Kopf und formte mit dem Mund überdeutlich das Wort „nothing“. Nichts hatte ich herausfinden können. Zuletzt war ich zu der winzigen Polizeistation im Ort gefahren und hatte Johann vermisst gemeldet. Als ich heute Morgen vom Handyklingeln wach wurde, war er nicht im Zimmer. Der Verlag war dran, um Druck wegen der Kalenderfotos zu machen. Aber Johann war eben Perfektionist. Sein Fotokoffer hatte auf dem Bett gelegen, außerdem die kleine, tarngrüne Leinentasche mit dem Aufdruck „If it doesn`t fit in here you don`t need it out there“, die er gestern bei diesem dicken Hopi gekauft hatte, in dem einzigen „Shop“. Er hatte alles bereitgelegt für die Fahrt ins Monument Valley, weil das Wetter endlich gut werden sollte. Ich war wieder nicht aufgewacht, als er sich hinaus geschlichen hatte. Dabei wusste ich, dass der Idiot gelegentlich auf die Pirsch nach Nachtfotos, die oft genug Nacktfotos waren, ging. Bisher war er im Laufe des Vormittags wieder aufgetaucht, meist mit einem mächtigen Kater oder ohne Kreditkarte. Warum heute nicht?

Ungeduldig tippte ich gegen das Telefon. Der Officer wollte mich anrufen, sobald er etwas wusste. Als ich ihn sprach, musste er dringend zu einem Einsatz und war mit Blaulicht vom Gelände gerast, bevor die Wagentür richtig zu war. Was konnte in diesem verschlafenen Nest passiert sein? Es gab nicht einmal eine Bank, die man überfallen konnte.

Als ich am nächsten Morgen in den Frühstückssaal trat, winkte Laura mich heran. „Hast du schon gehört, Julia? Sie haben Lizzie gefunden.“ Sie sah mich mit demonstrativ aufgerissenen Augen an, als erwartete sie, dass ein Grizzly hinter mir auftauchte und mich vor ihren Augen zerfleischen würde.

„Ich kenne keine Lizzie.“

„Doch, sie bedient in Gil`s Diner.“

„Die Indianerin?“

„Pst“, sie legte beschwörend den Finger auf meine Lippen. „So sagen wir das hier nicht. Sie war eine Hopi, ja.“

„Was ist mit ihr?“

„Sie ist tot, draußen im Valley, nackt hat man sie gefunden.“

Mir fiel partout keine Antwort ein. Ich pfiff leise durch die Zähne.

„Ihr Vater sagt, sie hatte einen Verehrer. Sie ist schon vorletzte Nacht viel später als sonst von der Arbeit gekommen. Und gestern gar nicht.“

Ich hatte plötzlich keinen Frühstückshunger mehr. Ich musste schleunigst zurück in unser Zimmer. Mit fliegenden Fingern ließ ich den Laptop hochfahren, suchte nach den neuesten Dateien. Johann und ich hatten schon viele Aufträge gemeinsam erledigt. Seine Fotos und meine Texte, mein Bankkonto liebte unsere Zusammenarbeit und ich liebte ihn. Er war ein begnadeter Fotograf, ein echter Künstler – mit einer kleinen Schwäche. Er war verrückt nach Nacktfotos von jungen Frauen. Am besten ließen sie sich verkaufen, wenn markante Plätze den Hintergrund bildeten – vielleicht weil die Betrachter die Orte aufsuchen konnten. Vielleicht fotografierten sie dort ihre 120-Kilo-Angetraute und hatten Johanns Fotos vor dem inneren Auge.

So manche 100-Dollarnote hatte den Besitzer gewechselt, wenn wütende Väter oder Freunde ihm auf die Schliche gekommen waren.

Ich hatte Recht. Da waren die Bilder. Lizzies Körper wirkte reizvoll auf der roten Erde, genial wie Johann die Tumbling Weeds eingesetzt hatte, um den Eindruck zu vermitteln, dass man etwas erblickte, was eigentlich versteckt gehörte.

Aber wo blieb er?

War Lizzie ermordet worden?

Hatte er? Niemals!

„Ich muss sie nicht mit den Händen anfassen. Mein drittes Auge liebkost sie und bewahrt sie für mich auf, immer jung, selbst wenn das Original schon Hängetitten hat.“

Ich sprang auf. Hatte er mich belogen?

Ich riss die Leinentasche vom Bett. Hatte er mich jedes Mal belogen? Die Digitalkamera fehlte. Was hatte er vorgehabt?

Egal, auf jeden Fall musste der Laptop verschwinden, bevor die Polizei uns verdächtigte. Ich packte zusammen und ging zum Pick-up. Als ich durch die Lounge ging, piepte der Laptop. Hotspot gefunden. Ich erschrak. Im Wagen rief ich die Nachricht ab. Zwei E-Mails. Johann hatte sie über den Funkchip der Kamera versandt.

Die Fotos der ersten Mail zeigten Johann und Lizzie, Geschlechtsorgane in Nahaufnahme, Lizzie mit Würgemalen, nach Luft schnappend, Panik im Gesicht. Ich klickte sie weg, öffnete die andere Mail.

Das erste Foto zeigte Johann allein. Er lag an einen Felsen gelehnt. Sein Bein war offensichtlich gebrochen. Blut war in den Boden gesickert. Auf den nächsten Fotos schroffe Felsen, ein paar grüne Büschel. Ich kannte die Felsformation im Hintergrund. Wir wollten sie für Juli aufnehmen.

Dann ein Sandbild. Mit Buchstaben. „Hilf mir.“

Das letzte Foto zeigte strahlende Helligkeit. Er hatte die gleißende Sonne fotografiert.

Konzentriert löschte ich ein Foto nach dem anderen.

Dann ging ich zu Laura, um zu frühstücken.

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